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Astaroth Dämonenland

Lenhard Scherb
Weltenträumer
Welt des Zwielichts
Registriert: 26.10.2015
Beiträge: 1

Astaroth Dämonenland

Beitragvon Lenhard Scherb » Di 27 Okt, 2015 19:15

Hallo zusammen!
Dann mal zum Einstieg hier die ersten beiden Kapitel meines Romans `Astaroth - Dämonenland. Viel Spaß beim Lesen :-)

-1-
Daniel war von der Arbeit heim gekommen, hatte sein Hemd gegen ein T-Shirt getauscht und war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Er sah aus dem Fenster der Dreizimmerwohnung, die er gemeinsam mit Ruth, seiner Freundin, bewohnte. Zufrieden summte er vor sich hin, während er mit den Tellern und Gläsern hantierte. Ruth würde jeden Moment vom Sport wiederkommen. Beim Gedanken an seine Freundin musste er lächeln. Ruth ging schon ins Fitnessstudio, als er sie kennengelernt hatte, immer mit der gleichen Erklärung. Sie wolle zwei oder drei Kilo abnehmen. Daniel war nie der Meinung gewesen, dass Ruth dies nötig habe, auch wenn sie etwas über dem Idealgewicht lag. Er fand, dass bei ihr jedes Kilo – und vor allem ihr Herz – an der rechten Stelle saß. Er dachte an ihren dunkelblonden Pagenschopf, unter dem fröhliche blaue Augen aus einem Gesicht voller Sommersprossen blitzten. Ja, mit dieser Frau würde er noch lange zusammen sein wollen. Vielleicht, wie es so schön hieß, bis das der Tod sie scheide. Ja, er war glücklich mit seinem Leben.
Ruth und er waren jetzt gut zwei Jahre zusammen und vor drei Monaten hatten sie entschieden, sich eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Es hatte nicht lange gedauert und sie hatten eine hübsche Wohnung gefunden, im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Der Umzug war jetzt einen Monat her und er hatte die Entscheidung bislang keine Sekunde bereut. Das Haus lag in einer ruhigen Seitenstraße in Aachen-Forst, war frisch renoviert und dennoch mit dem gemeinsamen Budget gut erschwinglich. Die Lage war ideal, in der Nähe gab es alles, was sie zum Leben brauchten und in nur einer Viertelstunde waren sie in der Innenstadt. Ruth war Verkäuferin in einer Boutique, er selber hatte einen Job in der IT-Abteilung eines Kaufhauses. Wobei, ein Job war es nicht mehr, eher ein echter Arbeitsplatz. Er war jetzt Anfang dreißig und arbeitete schon seit fast zehn Jahren dort. Am Anfang war es ein Praktikum gewesen, das er während der Ferien nach seinem fünften Semester Informatik an der Aachener Hochschule angenommen hatte. Bald hatte sein Chef gemerkt, dass Daniel auch ohne abgeschlossenes Studium der Beste für eine freie Stelle gewesen war und hatte ihm ein Angebot gemacht. Daniel hatte nicht lange nachgedacht, das Studium geschmissen und den Job angenommen. Heute kümmerte er sich als Applikationsmanager um das Zeiterfassungssystem für Mitarbeiter und er konnte sich gut vorstellen, bis zur Rente dort weiterzumachen.
Das Telefon klingelte. Daniel sah auf das Display, es war Ruths Mutter. Bestimmt wollte sie Ruth und ihn am Wochenende zum Essen einladen.
„Hallo Margreth, wie geht´s?“
„Daniel...“ Als er die gebrochene Stimme hörte, wurde ihm sofort mulmig.
„Margreth, was ist denn?“
„Daniel, es ist etwas Furchtbares passiert. Ruth ist tot!“
Daniel erwachte mit einem Schrei. Er war schweißgebadet, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wischte sich über die Stirn und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Eine heiße Milch mit Honig würde ihm guttun und helfen, wieder einzuschlafen. Noch immer suchte die Erinnerung an diesen schlimmsten Moment seines Lebens ihn in seinen Träumen heim, obwohl die Ereignisse bereits mehr als drei Monate zurücklagen.
Während er in der Küche seine Milch zubereitete, dachte er einmal mehr an die verhängnisvollen Ereignisse und sofort stiegen ihm die Tränen in die Augen. Ruth war auf dem Weg vom Sport nach Hause mit dem Fahrrad gestürzt, der Autofahrer hinter ihr hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Sie war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Sie habe keine Chance gehabt, hatten die Ärzte gesagt. Mühsam kämpfte er die Tränen nieder. Sein Blick fiel auf die Uhr und ihm entfuhr ein Stöhnen. Nicht einmal mehr vier Stunden Schlaf eher er wieder aufstehen musste.

Seitdem hatte Daniel sich in die Arbeit gestürzt, um sich abzulenken. Was war ihm denn sonst geblieben? Ein paar Erinnerungen, zerplatzte Träume, sonst nichts. Mit der Zeit würde er wieder die Kraft finden, neue Kontakte zu knüpfen, aber in den letzten Wochen hatte er sich isoliert. Von Ruths Familie, von vielen seiner Freunde, selbst bei seiner eigenen Familie meldete er sich seltener, als er sollte. Im Augenblick wollte er Abstand gewinnen, sobald er etwas Kraft gesammelt hatte, würde er sich eine neue Wohnung suchen.

Als Daniel bei der Arbeit ankam, war er immer noch völlig erschlagen. Die Trauer ließ ihn abends lange wach liegen, die nächtlichen Albträume taten ein Übriges. Ein Arzt hatte vorgeschlagen, ihm Schlafmittel zu verschreiben, doch Daniel hatte dankend abgelehnt. Er wollte seine Gefühle nicht mit irgendeiner Pille unterdrücken.
Schon beim Einstechen, sah er, womit er seinen Tag verbringen würde. Die Zeiterfassung streikte, vermutlich war wieder mal der Server abgeschmiert. Kaum, dass er in sein Büro kam, war auch schon sein Chef da.
„Daniel, das System läuft nicht. Schaust du da bitte mal nach?“ Erst bei einem zweiten Blick fiel ihm auf, wie müde Daniel war. „Herrje, wie siehst du denn aus? Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Hallo Achim. Es geht schon, ich hab nur schlecht geschlafen. Ich schau sofort nach dem Problem, wahrscheinlich muss ich das System wieder mal komplett neu starten und dann die Daten aus den Stechuhren synchronisieren.“
„Okay. Dann bis später.“
Eine halbe Stunde später kam Ingo, sein Büropartner, zur Arbeit. „Hallo Daniel. Na, spinnt die Zeiterfassung wieder mal?“
Daniel sah auf und warf ihm einen genervten Blick zu. Ingo lachte. „Schon gut, ich helfe dir.“
Eigentlich war Ingo für die Logistiksoftware zuständig, kannte sich aber auch mit Daniels Arbeitsgebiet aus. Er war schon ewig dabei, seine langsam ergrauenden Haare wurden auf der Kopfmitte allmählich spärlich und sein Bierbauch spannte das abgewetzte Cordjackett. Auf Daniel machte er immer den Eindruck eines Studienrats.
„Klar, vielen Dank!“
Gegen Mittag lief das System wieder. Ingo und Daniel trafen sich mit Christoph und Judith, den beiden anderen Kollegen aus ihrem Team, und gingen gemeinsam Essen. Es war zwar bereits Anfang Mai, aber wie so oft ließ der Frühling hier am Rande der Eifel auf sich warten. Sie überquerten den Markt, vorbei am Karlsbrunnen und bogen in die Pontstraße mit ihren vielen Kneipen, Cafés und Schnellimbissen ein. Judith und Daniel stapften ein paar Meter hinter den beiden andern durch den typischen Aachener Nieselregen. Diesen hielt Judith mit einem großen Schirm, von dem eine freundliche Sonne strahlte, ab. Daniel fand, dass er hervorragend zu ihrem optimistischen und einfühlsamen Gemüt passte. Er selber bevorzugte allerdings seine alte Regenjacke. Sie begleitete ihn schon viele Jahre bei fast jedem Wetter, zur Arbeit, in der Freizeit und im Urlaub und er hing an ihr.
„Und, wie geht’s dir?“ Judith sah ihn mit ihren rehbraunen Augen besorgt an. Obwohl sie grade mal zehn Jahre älter als Daniel war, legte sie eine geradezu mütterliche Fürsorge an den Tag, was sich mit Ruths Tod noch verstärkt hatte. Sie war so die einzige gewesen, der Daniel sich in den letzten Wochen anvertraut hatte.
„Geht so“, antwortete Daniel. „Ich hab die Nacht wieder mal nicht besonders toll geschlafen.“
„Du Armer. Aber glaub mir, es wird mit der Zeit besser. Langsam, aber sicher.“ Judith hatte vor einigen Jahren ihren Vater verloren.
„Ich weiß. Im Augenblick ist es aber noch furchtbar. Ich kriege kaum den Alltag auf die Reihe.“
„Hast du dich mal bei dem Internetportal angemeldet, das ich dir empfohlen habe?“
„Ja. Es ist wirklich hilfreich, vielen Dank.“
Judith hatte ihm den Link zu einem Internetforum geschickt, wo Trauernde sich mit Leidensgenossen austauschen konnten. Dort hatte er viel Trost gefunden, das Gefühl, nicht alleine zu sein, tat gut, auch wenn es die eigentliche Trauer nicht verringerte. Er hatte sogar seit einigen Tagen eine regelmäßige Chatpartnerin.

Der Nachmittag war ohne besondere Ereignisse verlaufen, Daniel hatte die Zeit für Routinearbeiten genutzt. Jetzt war er wieder zuhause, betrat die Wohnung und sofort fühlte er sich wieder einsam. Tagsüber lenkte ihn die Arbeit von seiner Trauer ab, doch wenn er abends die leere Wohnung betrat, war sie sofort mit voller Wucht wieder da. Die Wohnung kam ihm ohne Ruth unendlich leer vor.
Über den ganzen Tag war es Daniels Hoffnungsschimmer gewesen, wieder mit Iris zu chatten. Also nahm er, ohne Schuhe und Jacke auszuziehen, die Tür ins Arbeitszimmer. Es war bis unter die Decke mit offenen Bücherregalen zugestellt, vollgepfropft mit Büchern aller Art und einigen Aktenordnern. Auf einem Schreibtisch standen Daniels Notebook und Drucker, dazu Papier und Stifte. Wie auf der Arbeit hielt Daniel peinlichst Ordnung, nicht ein Blatt lag unsortiert herum. Er fuhr den Computer hoch, während er sich in der Küche rasch eine Scheibe Brot schmierte und ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. So ausgestattet machte er es sich vor dem Rechner bequem. Laut Chatprogramm war Chrysantheme11, so nannte sich Iris, noch nicht online. Es würde wohl noch ein wenig dauern, denn sie arbeitete, wie Daniel wusste, in Köln, und stand regelmäßig im Stau des Berufsverkehrs.

Iris parkte ihren alten, grasgrünen Citroën. Der Wagen hatte seine beste Zeit lange hinter sich, und bei jeder Reparatur schwor sich Iris, ihn jetzt endlich zu verschrotten. Dann aber brachte sie es doch wieder nicht übers Herz. Und für die tägliche Fahrt zur Arbeit war er immer noch gut genug.
Der Verkehr auf der A4 war wiedermal eine Katastrophe gewesen, aber jetzt war sie endlich angekommen. Sie hatte in Trier Geschichtswissenschaften mit Schwerpunkt Mediävistik studiert, und das Glück gehabt, fast direkt im Anschluss an ihre Magisterarbeit ein Angebot der Kölner Universitätsbibliothek bekommen zu haben. Dort kümmerte sie sich jetzt um die Bibliothek des historischen Instituts, sie verwaltete die bestellten Fachzeitschriften und, was sie viel spannender fand, eine kleine Sammlung mittelalterlicher Originale.
Sie besaß ein schickes kleines Haus in Jülich, das sie sich geleistet hatte, bald nachdem sie ihre erste feste Anstellung angetreten hatte. In Köln war Wohnraum unerschwinglich, und als sie sich sicher war, dass ihr der Job zusagte, hatte sie sich niedergelassen. Dank ihres noch recht studentisch geprägten Lebensstils reichte ihr Gehalt gut für die Kreditraten und regelmäßige Besuche auf Mittelaltermärkten. Sie war während ihrer Jugend über eine Rollenspielgruppe mit der Szene in Kontakt gekommen, mittlerweile besaß sie einen halben Kleiderschrank voller passender Kleidung.
Wie fast jeden Abend war es bereits nach sechs, als sie endlich die Tür aufschloss. Sie betrat den Flur und seufzte zufrieden. Es gab einfach keinen besseren Ort als sie eigenen vier Wände.
Ihr Haus war nicht groß, aber es reichte vollkommen. Es war im Stil einer Maisonettewohnung geschnitten, das Erdgeschoss bestand im Wesentlichen aus einer großen Wohn- und Essfläche. Von dort gelangte man über eine Terrasse in den kleinen, ordentlich gepflegten Garten. Eine Wendeltreppe führte hinauf zur Empore, wo Bett und Kleiderschrank standen, außerdem eine Couch und der Fernseher. Sie liebte es, von dort oben durch die großen Fenster in ihren Garten zu blicken.
Der blinkende Anrufbeantworter verlangte ihre Aufmerksamkeit. Sie drückte auf die Abspieltaste und lauschte der Nachricht, während sie sich Schuhe und Jacke auszog.
Es piepte, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Hallo Iris, ich bin´s. Wie geht es dir? Vielleicht schaffst du es ja, dich mal kurz zu melden. Hast du dich eigentlich nochmal mit Sebastian getroffen?“
Iris musste lächeln. Der erwähnte Sebastian war eine kurze Affäre gewesen, von der sie ihrer Mutter dummerweise erzählt hatte. Die hoffte bald auf Enkel und so ließ sie jetzt nicht locker, immer in der Hoffnung, dass Iris doch endlich einen Mann fürs Leben finden möge. Aber Sebastian würde dieser Mann sicher nicht sein. Er war zwar süß gewesen aber der Funke hatte einfach nicht überspringen wollen. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen und die Affäre dann rasch beendet.
Iris zog Schuhe und Jacke aus, wenig später lag auch schon eine Scheibe im CD-Player und der raue Gesang von Eisbrecher schallte durch ihre Wohnung. Ja, sie liebte die Gothicmusik, auch wenn sie eher in der Mittelalter- und Rollenspielszene unterwegs war. Sie fuhr ihren Computer hoch und als sie ihre privaten E-Mails checken wollte, poppte ein Chatfenster auf.

derDanielL: Hallo Iris, wenn du nachher Lust zu chatten hast, ich bin jetzt online.

Sie selber hatte sich in dem Internetforum für Trauernde vor Jahren angemeldet, als ihre Großmutter gestorben war, und war dann dort hängen geblieben. Seit einiger Zeit war sie dort eine der guten Seelen, die ihre eigenen Erfahrungen mit den neuen Usern teilten. Die Tragik von Daniels Geschichte hatte sie gerührt; gerade, als er glaubte, sein Leben entwickelte sich in Richtung einer gewissen Stabilität, war ihm durch den Tod seiner Freundin alles genommen worden. Nach einigen Antworten auf Fragen seinerseits hatten sie sich zunächst per E-Mail, wenig später auch per Chat ausgetauscht. Daniel hielt sich in der Muckibude fit, auch Iris war Mitglied in einem Fitnesscenter, besuchte dort allerdings eher den Zumbakurs, als Hanteln zu stemmen. Er teilte mit ihr den Spaß an langen Spaziergängen, aber während sie bevorzugt Mittelaltermusik hörte, stand er auf die aktuelle Chartmusik.
Chrysantheme11: Hallo Daniel, ich bin wieder zuhause. Wie geht es dir heute?
derDanielL: :-) Schön, dass Du da bist. Mir geht’s so lala. Hatte wieder Albträume.
Chrysantheme11: Oh je, du Armer.
derDanielL: Ich weiß, es ist noch nicht so lange her, es braucht halt alles seine Zeit. Ich bin aber wahnsinnig froh, mit dir wenigstens jemand zum Reden zu haben.
Chrysantheme11: Gerne. Dafür ist das Forum da, jemand zum Reden zu finden. Redest Du denn noch mit anderen Leute, mit Freunden und so?
derDanielL: Nicht wirklich. Ich hab mich nach ihrem Tod ein wenig eingeigelt.
Chrysantheme11: *stirnrunzel* Das ist nicht gut.
derDanielL: Ja, ich weiß, aber was soll ich machen? Im Augenblick bin ich kein guter Gesellschafter. Und ich bin auch noch nicht wirklich soweit, drüber zu reden.
Chrysantheme11: Du redest mit mir.
derDanielL: Das ist irgendwie was anderes. Wir haben uns im Forum getroffen, da ist das Thema ja eh schon da, da fällt es mir leichter, davon zu erzählen.
Chrysantheme11: Kopf hoch, deine Freunde und Familie haben bestimmt ein Ohr für dich.
derDanielL: Jaja, hast ja recht. Ich wünschte nur, ich hätte wenigstens noch eine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Es ist furchtbar, dass sie mir von einem Moment auf den andern weggenommen wurde.
Chrysantheme11: Ja, ich habe mich damals wenigsten noch von meiner Oma verabschieden können. Aber ich glaube auch fest daran, dass sie irgendwo noch weiterlebt. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass meine Oma noch ganz nah bei mir ist.
derDanielL: Ich wünschte, ich hätte deinen Glauben.
Chrysantheme11: Du bist nicht religiös?
derDanielL: Nein, überhaupt nicht.
Chrysantheme11: Warum?
derDanielL: Viel zu rational. Berufskrankheit, sozusagen.
Chrysantheme11: Das ist schade. Mir hat mein Glaube damals wirklich sehr geholfen.
derDanielL: Mit dem Christentum kann ich überhaupt nix anfangen. Meine Eltern sind Atheisten, ich bin nicht mal getauft.
Chrysantheme11: Wer hat denn gesagt, dass ich Christin bin?
derDanielL: Was bist du denn dann?
Chrysantheme11: Sagen wir mal, Neuheidin. Das trifft es ganz gut.
derDanielL: Heidin? Das ist ja interessant, da musst Du mir was drüber erzählen.
Chrysantheme11: Aber nicht heute. Ich muss jetzt noch den Haushalt machen.
derDanielL: Okay. Wann sehen wir uns wieder?
Chrysantheme11: Ich bin die nächsten Tage abends beschäftigt. Ich denk mal so Anfang nächster Woche bin ich wieder online.
derDanielL: :-( So lange hin? Dann wünsch ich dir bis dann alles Gute. Tschüss!
Chrysantheme11: Tschööö!

Iris bedauerte ebenfalls, erst in einigen Tagen wieder mit Daniel chatten zu können. In ihr keimte die Neugier, ihn persönlich kennenzulernen. Sie wohnten kaum dreißig Kilometer auseinander und ein echtes Treffen war einfach so viel besser, als ein Chat. Außerdem war ihr eine Idee gekommen, als er sagte, er wolle seine verstorbene Freundin nur noch einmal sehen. Vielleicht würde sie ihm da helfen können.

-2-
Iris war absichtlich nicht sonderlich präzise gewesen, was ihre Religion anging. Sie war eine Heidin, ja, aber nicht in dem Sinne, dass sie irgendwelche antiken Göttinnen oder Götter anbetete. Ihre einzige Göttin war die Natur in ihrer Gesamtheit. Auf spiritueller Ebene war alles miteinander verbunden, Lebendiges und Totes, Stoffliches und Metaphysisches. Sie fühlte sich dem fast vergessenen Wissen des Mittelalters und der Antike verbunden, dem Wissen, für das meist unschuldige Frauen und Männer auf dem Scheiterhaufen gelandet waren. Eine bessere Beschreibung als `Heidin´ wäre `Hexe´ gewesen.

Ihren ersten Kontakt mit dem Übersinnlichen hatte sie gehabt, als sie etwa fünfzehn Jahre alt gewesen war. Komischerweise war es ausgerechnet auf den Exerzitien ihres katholischen Gymnasiums gewesen. Eines der Seminare hatte `Esoterik´ zum Inhalt, es gab ein paar Erklärungen zu Tarot und Gläserrücken, natürlich mit dem Hinweis, dass dies alles Unfug sei. Sie und ein paar ihrer Freundinnen hatten sich mit dem Thema beschäftigt, damals, noch vor den Zeiten des Internets, hatten sie lange Stunden in der Bücherei verbracht, damit ihre Eltern ihnen nicht auf die Schliche kamen. Bei einem gemeinsamen Abend hatte sie dann mit Gläserrücken und Kartenlegen experimentiert. Wie es bei solch einem Hühnerhaufen zu erwarten gewesen war, drehten sich die Fragen vor allem um Jungs. Iris war erstaunt gewesen, in fünf von sechs Fällen hatte das Gläserrücken den ersten Freund korrekt vorhergesagt. Im Studium war sie dann mit dem Thema Hexerei gelegentlich während Vorlesungen in Kontakt gekommen. Ihr persönlicher Weg hatte begonnen, als ihre Großmutter gestorben war. In der Nacht hatte sie von ihr geträumt.

„Iris, mein Kind, ich muss jetzt gehen.“
„Wohin, Oma?“
„Wohin wir alle gehen müssen. Aber sei nicht traurig, ich werde weiter auf dich aufpassen.“ Ihre Oma hatte sie aufmuntern wollen, doch in ihren Augen hatten Tränen geglänzt.
„Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, Iris.“

Iris hatte diesen Traum nie vergessen. Am nächsten Morgen war die Nachricht gekommen, ihre Großmutter sei überraschend gestorben. Wann immer sie an diese Nacht zurück dachte, war sie sich tief in ihrem Herzen sicher, dass dies mehr als ein normaler Traum gewesen war. Seitdem hatte Iris manchmal wirklich das Gefühl gehabt, dass ihre Oma ganz nah bei ihr war. Tief in ihrem Innern war Iris sich fortan sicher, eine besondere Gabe zu besitzen.
Dieser Traum war der Auslöser gewesen, dass sie sich intensiver mit dem Thema Esoterik beschäftigt hatte. Zum Glück gab es jetzt das Internet, das ihr ihre Recherchen sehr erleichterte. So war sie auf die moderne Hexenbewegung gestoßen. Die Naturverbundenheit dieser modernen Hexen spiegelte ihre eigene Einstellung zur Umwelt wieder und nach einiger Zeit hatte sie Kontakt zu ein paar praktizierenden Hexen geknüpft. Anfangs hatte sie den Ritualen noch eher ungläubig beigewohnt, aber die Atmosphäre und die Philosophie hatten sie mit der Zeit in ihren Bann geschlagen, und schließlich hatte sie sich ihnen angeschlossen. Ihr Zirkel bestand neben ihr aus weiteren acht Personen, fünf Frauen und drei Männern. Sie trafen sich regelmäßig, um in der Gemeinschaft Spiritualität zu erfahren, der Mutter Erde zu opfern, oder einfach nur ein wenig zu klönen. In dieser Runde fühlte Iris sich auf eine Weise verstanden, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Hier hatte sie niemand belächelt, als sie von ihrem Traum erzählt hatte. Alle, die im Hexenzirkel waren, wussten wie es war, `anders´ zu sein.
Hier tauschten sie sich auch über Rituale und Zauber aus, Iris praktizierte beides selber. Sie glaubte zwar nicht direkt daran, aber sie sah einen Nutzen darin. Der Glaube versetzt Berge und Iris hatte mehr als einmal erlebt, dass eine Bekannte den Angebeteten erobert hatte, nachdem Iris mit ihr einen Liebeszauber gewirkt hatte. Auch wenn es vielleicht nur das gestärkte Selbstvertrauen war, das hier am Werke war, es war das Ergebnis, das zählte, und Iris war mächtig stolz auf ihre Erfolge.
Und so hatte Iris eine Idee, wie sie Daniel den Wunsch, noch einmal mit seiner Freundin zu sprechen, erfüllen konnte. Natürlich glaubte sie nicht wirklich daran, aber alleine die Illusion, da war sie sich sicher, würde Daniels Seele gut tun. Wichtig war nur ihn zu überzeugen, dass sie dazu in der Lage sei.
Sie selbst hatte zwar noch nie den Geist einer toten Person beschworen, aber sie wusste, wen sie fragen könnte. Zunächst aber rang sie mit sich, ob sie es Daniel überhaupt anbieten sollte. Dass er sich nicht als religiös bezeichnete, war für sie dabei eher ein geringeres Hindernis. Gerade diejenigen, die sich als ungläubig bezeichneten, waren leichter zu einem Experiment zu bewegen, denn sie verstießen damit nicht gegen irgendwelche Moralvorstellungen ihrer Religion. Sie hatte vielmehr Sorge, sich bei ihm zu blamieren. Dass er sie für dumm oder leichtgläubig hielt und sie nicht mehr für voll nehmen, oder einfach den Kontakt abbrechen könnte. Trotzdem, sie musste es versuchen.

Chrysantheme11: Was hältst Du davon, dass wir uns mal treffen?
derDanielL: Wie kommst Du darauf?
Chrysantheme11: Naja, wir wohnen nicht weit voneinander weg. Und ich hab Spaß an unseren Chats. Also dachte ich, wieso nicht?
derDanielL: Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, andere Frauen zu treffen.
Chrysantheme11: Ich rede ja auch nicht von einem Rendezvous. Ich möchte einfach nur einen Kaffee mit dir trinken.
derDanielL: Okay. Tut mit bestimmt auch gut, ich kann mich ja auch nicht ewig verkriechen.
Chrysantheme11: Wie wär es mit Mittwochabend? Da kann ich früher frei machen.
derDanielL: Kommst Du nach Aachen, oder soll ich rüber kommen?
Chrysantheme11: Ich sitze ja eh schon im Auto, da kann ich auch durchfahren.
derDanielL: :-) Wie wär es um halb sieben am Brander Bahnhof?
Chrysantheme11: Die Zeit ist gut, aber ich kenn den Bahnhof nicht. Kannst Du mir die Adresse geben?
derDanielL: Moment, ich muss sie grad raussuchen.

Daniel war aufgeregt. Er war froh, endlich nochmal vor die Tür zu kommen, dennoch hatte er ein wenig das Gefühl, dass es noch zu früh sei. Immerhin, soviel wusste er, war Iris Single und ungefähr in seinem Alter. Er hoffte nur, dass sie ihn wirklich nur als Freund kennenlernen wollte. Er hatte ihr ein Foto von sich geschickt, damit sie ihn beim Treffen erkennen würde, er selber hatte noch kein Bild von ihr. Und natürlich war er neugierig, wie die Frau aussah, mit der er seit Wochen chattete. So sah er dem kommenden Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen.

Iris freute sich, dass Daniel sich mit ihr treffen würde. Noch hatte sie ihm nichts von ihrer Idee verraten, das wollte sie lieber von Angesicht zu Angesicht tun. Sie betrachtete das Gesicht auf dem Foto und musste unwillkürlich lächeln. Kluge graue Augen blickten sie an. Daniel war durchaus attraktiv mit seinen kurzen blonden Haaren, die höchstens einen halben Zentimeter lang waren. Er hatte eine leichte Hakennase, die aber zum kantigen Gesicht mit den kräftigen Kiefern und hohen Wangenknochen passte. Insgesamt hatte es etwas Aristokratisches. Sie hatte Daniel um das Foto gebeten, damit sie ihn beim Treffen erkennen würde, aber sie benötigte es noch für etwas anderes. Sie druckte sich eine Kopie aus.
In ihrem Arbeitszimmer befand sich neben einem Schreibtisch ein abgeschlossener Sekretär, in dem sie einige Dinge aufbewahrte, die sie für ihre Zauberei benötigte. Sie öffnete das Schloß, nahm ihre Schreibfeder und ein kleines verschraubtes Gefäß mit einer dunklen Flüssigkeit. Es handelte sich um Ochsenblut, dass sie von einem Mitglied ihres Zirkels bekommen hatte.
Bevor sie begann, rückte sie ihre Brille zurecht. Obwohl sie diese eigentlich nur zum Autofahren benötigte, fanden sich in einer Schublade in ihrem Schlafzimmer mittlerweile fast ein Dutzend verschiedener Gestelle. Sie hatte einen kleinen Brillentick, das war ihr klar.
Sie tauchte die Feder in das Ochsenblut und begann hochkonzentriert, die Rückseite des Fotos zu bemalen. Sie zeichnete das alchemistische Zeichen für Quecksilber, denn dies war das Metall von Hermes, dem Gott der Redekunst. Ihre Hand zitterte und sie musste die Feder absetzen. Es war sicher nicht der erste Zauber, den sie vorbereitete, aber heute schien etwas Besonderes vorzugehen. Wieso war sie so unruhig? Lag es daran, dass sie zum ersten Mal einen Zauber zu ihrem eigenen Nutzen durchführen wollte? Iris atmete tief durch und setzte ihre Arbeit fort.
Über das Symbol des Götterboten schrieb sie ihren Namen, Daniels darunter. Unter Daniels Namen schrieb sie `Morax´, den Namen eines Dämons. Um Daniels und `Morax´ Namen herum zeichnete sie ein Pentagramm. In einem Mörser mischte sie Aztekensalbei, den ihr ein weiteres Mitglied ihres Hexenzirkels, aus Österreich besorgt hatte, mit Weihrauch und Kohlepulver. Sie füllte das Gemisch in eine kleine Feuerschale, nahm die Schale, Schwarzpulver, Streichhölzer und einen langen Glimmspan und ging in den Garten. Dort wuchs ein alter Buchsbaum, der sicher schon viel länger hier stand, als ihr Haus. An dessen Wurzel angekommen, zog Iris Schuhe und Socken aus, um Kontakt mit der Erde herzustellen. Sie sprach ein kurzes Gebet an Mutter Natur, ihr beim folgenden Zauber beizustehen, und entzündete den Glimmspan. Während sie mit diesem das Räucherwerk entzündete, begann sie die Beschwörung.
„Sator arepo tenet opera rotas. Hermes, Gott der Redekunst, nimm dieses Opfer an. Gib mir die Fähigkeit, Daniel von meinem Vorhaben zu überzeugen. Morax, Graf der Hölle, nimm mein Opfer an. Öffne Daniels Geist, um ihn das Unbegreifliche begreifen zu lassen. Sator arepo tenet opera rotas.“
Dann legte sie das Foto mit dem Bild nach unten auf das schwelende Räucherwerk, streute einen kleinen Kegel Schwarzpulver darauf und wiederholte die Beschwörung, bis die Glut sich durch das Papier gefressen und das Schwarzpulver in einem hellen Blitz entzündet hatte. Dann löschte sie die Glut mit Erde und ging schweigend zurück ins Haus.

Der Zauber hatte sie optimistisch gestimmt, das merkte sie schon, als sie die Gaststätte betrat. Es war ein Bahnhof der ehemaligen Vennbahnstrecke, wie es mehrere an der zum Radweg ausgebauten Trasse gab. Der Raum war groß, offensichtlich der ehemalige Wartesaal, aber durch die Holzbalken an der Decke sehr gemütlich. An einem Tisch vor dem großen Fenster sah sie Daniel. Er trug einen marineblauen Troyer und eine schwarze Jeans. Obwohl er saß, konnte sie erkennen, dass er ziemlich groß sein musste, sie schätzte ihn auf über Einsachtzig. Sie ging zu ihm an den Tisch.
„Daniel?“

Daniel sah auf. Eine schlanke, gutaussehende Frau Ende zwanzig, stand an seinem Tisch. Sie trug wie er eine Jeans und einen weißen Rollkragenpullover. Sie mochte etwas über Einssiebzig groß sein und hatte kastanienbraune Locken bis zur Mitte des Rückens. Ihre Augen waren ebenso braun, ihre sanften Gesichtszüge und die Stupsnase ließen sie ein wenig kindlich erscheinen. Sie trug eine schwarze Hornbrille, was ihr das Aussehen einer Bibliothekarin verlieh.
„Ja. Du bist Iris?“ Er fuhr sich mit seiner Hand über die kurzen Haare.
„Ja.“ Sie setzte sich.
Wenig später kam der Kellner und sie bestellten. Nach einiger Zeit brachte er das Essen, einen Burger für Daniel und einen Flammkuchen für Iris. Während des Essens unterhielten die beiden sich angeregt.
„Wo kommst du eigentlich ursprünglich her?“ wollte Iris wissen.
„Ich bin in Aachen aufgewachsen. Meine Eltern wohnen in Eilendorf, nicht allzu weit von hier. Und du?“
„Ich komme aus Nimshuscheid.“
„Nimshuscheid? Wo ist das denn?“
„Das ist ein Dorf in der Eifel, knapp eine halbe Stunde von Bitburg entfernt“, antwortete Iris. „Hast du noch Geschwister?“, wollte sie dann wissen.
„Einen Bruder, er ist Banker und wohnt in der Innenstadt. Und du?“
„Nein. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch sehr jung war. Meine Mutter hat mich alleine groß gezogen, sie hatte zwar meistens einen festen Freund, hat aber nie wieder geheiratet.“ Iris klang ein wenig wehmütig.
„Oh, entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Ist schon okay.“ Iris´ Stimme war wieder so fröhlich wie zuvor. „Ich hab schließlich als erste gefragt. Es ist wie es ist, ich kenne es gar nicht anders.“
Sie plauderten weiter und Daniel wurde zu seinem eigenen Erstaunen lockerer und lockerer. Iris war witzig und einfühlsam. Daniel merkte jetzt, wie sehr ihm der Kontakt zu anderen Menschen gefehlt hatte. Aber er merkte auch, dass Iris noch irgendetwas auf dem Herzen hatte.
Auch Iris fühlte sich in Daniels Gegenwart wohl. Er war, bei aller Trauer, die man ihm anmerkte, ein fröhlicher Mensch. Sie wünschte, sie könnte sein Leiden ein wenig lindern, aber wusste nicht, wie sie das Gespräch auf das Thema lenken konnte. Zum Glück machte das Daniel von sich aus, als sie das Essen beendet hatten.
„Sag mal, gibt es noch einen anderen Grund, dass du dich mit mir treffen wolltest?“
Iris spürte, dass sie jetzt mit ihrer Idee herausrücken musste. Sie wurde nervös, der Abend war gut gelaufen, Daniel war ihr wirklich sympathisch. Sie hatte Angst, dass er sie auslachen könnte oder mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte. Iris atmete tief ein und sah ihm direkt in die Augen, um seine Reaktion beobachten zu können.
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“ fragte sie.
„Seltsame Frage an jemand, der von sich sagt, nicht gläubig zu sein, oder?“
„Eigentlich nicht. Schließlich ist es auch ein Glaube, nicht an ein höheres Wesen zu Glauben.“
Daniel war überrascht. Er hatte bei einem ersten Treffen nicht mit einem derart tiefgründigen Gespräch gerechnet.
„Ja, da hast du Recht“, stimmte er Iris zu. „Und komischerweise, ja, ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Vielleicht auch an Wiedergeburt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich einfach aufhöre, zu existieren. Oder das Ruth komplett verschwunden ist.“
„Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, was würdest du sagen, kann man dann mit Toten Kontakt aufnehmen?“
„Im Sinne einer Séance, oder an was denkst du?“
In Daniels Augen sah sie Verwunderung, aber keine direkte Ablehnung. „Ja genau.“
Plötzlich wurde ihm klar, was Iris ihm gerade anbieten wollte. Sein Magen ballte sich zu einem harten Klumpen. „Du denkst an Ruth, nicht wahr?“
Iris nickte stumm. Gleich würde sie wissen, ob sie zu viel riskiert hatte.
„Das ist verrückt.“
„Findest du?“
Iris Selbstsicherheit erschütterte Daniels Überzeugung, unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. „Schon. Ich meine, das ist doch Humbug, oder?“
„Was du Humbug nennst, ist für mich Teil meines Glaubens.“
„Was bist du, eine Hexe?“
„Ja genau. Ich bin eine Hexe. Ich glaube daran, mit magischen Ritualen die Realität beeinflussen zu können. Und ich bin da nicht allein. Hast du denn noch nie Unerklärliches erlebt?“
Daniel war verwirrt. Iris brachte ihn mit ihren Fragen aus dem Konzept, er hätte sich lieber über irgendwas Unverfängliches unterhalten. Bisher war es ein entspanntes Treffen gewesen, doch nun redete Iris von Dingen, die ihm Unbehagen bereiteten. Ruths Tod war noch zu nah, er wollte sich nicht mit Überlegungen beschäftigen, was danach sein könnte.
„Nicht wirklich“, versuchte er abzuwiegeln. „Als Jugendliche haben wir mal Gläserrücken gespielt, das Brett hat mir meinen Todestag vorausgesagt. Den hab ich jetzt schon einige Jahre überlebt.“
Aber das Brett hatte auch die Scheidung der Eltern seines besten Freundes kommen sehen. Dies verschwieg er, doch er musste daran denken. Seine Überzeugung bröckelte weiter.
„Also hast du zumindest auch schon mal damit experimentiert.“
„Ja, schon. Also pass auf. Wenn du mich davon überzeugst, das deine Magie funktioniert, dann mache ich dabei mit.“
„Und wie könnte ich dich überzeugen?“
„Zeig mir etwas, das ich nicht erklären kann.“
Iris überlegte einen Moment. „Also gut. Aber nicht heute.“
„Und warum nicht?“
„Weil ich meinen Zauberstab nicht dabei habe.“ Iris zwinkerte ihm zu und beide lachten.

Sie hatten sich für den kommenden Samstagabend verabredet. Iris hatte eine Weile nachgedacht, was sie wohl tun könnte, um Daniel zu überzeugen. Schließlich hatte sie sich für eine Weissagung entschieden, denn das wirkte meistens sehr überzeugend und sie war ganz gut darin, ein paar schwammige Vorhersagen zu machen, in die jeder hineininterpretierte, was ihm passte. Sie war zuversichtlich, ihn damit beeindrucken zu können. Pünktlich um acht Uhr abends klingelte es an ihrer Tür. Sie öffnete.
„Hallo Iris“, grüßte Daniel. Dann stockte er einen Moment. Irgendwie sah Iris heute anders aus, es brauchte einen Moment, ehe er verstand, woran das lag. Sie trug heute eine randlose Brille mit rechteckigen Gläsern.
„Hallo Daniel. Komm doch herein.“ Sie machte eine einladende Geste.
Iris führte ihn auf ihre Terrasse, wo sie sich niederließen. Der Frühling hatte in den letzten Tagen Fuß gefasst und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne wärmten die beiden, obwohl die Luft noch recht frisch war. Daniel war neugierig, was Iris vorhatte. Er hatte die letzten Tage viel über ihr Angebot nachgedacht. Es klang wirklich verlockend, und er hatte letztlich nichts zu verlieren. Zudem schien Iris sich ihrer Sache erstaunlich sicher. Vielleicht hatte sie ja wirklich Fähigkeiten, die die Wissenschaft nicht erklären konnten.
„Also, wie willst du mich überzeugen?“
„Ich dachte an das zweite Gesicht.“
„Was meinst du damit?“
„Ich werde dir etwas über dich sagen, was ich nicht wissen kann. Entweder einen Blick in die Zukunft, oder etwas aus deiner Vergangenheit, das ich nicht wissen kann. Würde dich das überzeugen?“
„Wenn es klappt, ja.“ Daniel hielt es für ausgeschlossen, dass es gelingen würde. „Und wie machen wir das jetzt?“
„Ich hab alles schon vorbereitet, gib mir bitte einen Moment, ich muss mich eben noch umziehen.“

Iris verschwand ins Haus. Als sie einige Minuten später zurückkam, trug sie eine kleine Kiste bei sich. Sie hatte Jeans und T-Shirt gegen einen Rock, Corsagentop und einen Kapuzenumhang getauscht, die sie über die Jahre auf verschiedenen Mittelaltermärkten zusammen gekauft hatte, ihre Locken hatte sie mit einem Band in einem losen Zopf zusammengefasst. Sie wusste, dass es ein wenig wie ein Klischee wirkte, aber sie wusste auch, dass das richtige Outfit wichtig für die Atmosphäre war.
Daniel sah sie an und kratzte sich hinter dem Ohr. „Steht dir gut, auch wenn es ein wenig stereotyp aussieht.“ In Wirklichkeit fand er, dass es ihr mehr als nur gut stand, vor allem das Corsagentop ließ in ihm Gefühle aufkommen, die er seit Ruths Tod nicht mehr gehabt hatte. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen – daran durfte er nicht einmal denken! Er wandte seinen Blick ab.
Iris lächelte. „Bist du soweit?“
„Was soll ich machen?“
„Komm mit.“ Iris führte ihn zu ihrem Lieblingsbuchsbaum. Erst jetzt bemerkte Daniel, dass sie barfuß war. Er fand, dass sie in der Rolle der Hexe sehr überzeugend war. Sie schien selber daran zu glauben. Sie kniete nieder und bedeutete Daniel, es ihr nachzutun. Als er auch auf dem Boden saß, öffnete sie die Kiste. Daniel sah allerlei Gegenstände, die wohl magischen Zwecken dienten.
Sie reichte ihm einige Holzstücke. „Schau sie dir gut an, ob du an ihnen etwas Ungewöhnliches findest.“
Daniel begutachtete die Scheite. Es war offensichtlich nur Holz. „Nein, das ist nichts als Holz.“
„Gut. Ich will ja nicht, dass du mir nachsagst, ich würde es mit ein paar billigen Zaubertricks versuchen. Schichte es bitte hier auf.“ Iris deutete auf eine Kuhle, in der einige Kiesel lagen. Während Daniel das Holz zurechtlegte, holte Iris die übrigen Gegenstände aus der Kiste. Zwei Fläschchen, eines mit einer klaren, das andere mit einer roten Flüssigkeit, ein Stoffsäckchen und einen gläsernen Kelch mit smaragdgrünen Verzierungen. Es waren seltsame Zeichen, Daniel hielt es für eine Art Alphabet, konnte es aber nicht lesen.
Iris hatte seinen Blick bemerkt. „Es ist Engelsschrift.“
„Aha.“ Als ob es ihm etwas gesagt hätte. Er strich seine Haare glatt, eine Geste, die seine Anspannung verriet.
Sie öffnete die Flasche mit der klaren Flüssigkeit und reichte sie ihm herüber. „Es ist parfümiertes Öl.“
Daniel nahm dem schweren Geruch von Lavendel und Patchouli wahr.
„Begieß das Opfer.“
„Das Opfer?“ Daniel verstand nicht.
„Das hier ist ein Opferaltar. Ein Trank- und Feueropfer, um genau zu sein.“
Daniel warf ihr einen skeptischen Blick zu, dann goss er die Flüssigkeit über das Holz.
Sie öffnete das Säckchen und reichte es ihm. Er untersuchte den Inhalt. Es war Weihrauch. Langsam glaubte er, begriffen zu haben. „Auf den Altar streuen?“
„Genau.“
„Wofür ist das alles gut?“
„Erwarte bitte keine vollständige Einführung in die Magie.“
„Schon okay, nur eine grobe Erklärung.“
„Also, dies ist ein Opfer für einen Dämon, den Höllengraf Gusion. Er kennt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn er das Opfer annimmt, wird es sich entzünden, nachdem ich das Trankopfer auf das Feueropfer gegeben habe, und er wird mir dann etwas aus deinem Leben mitteilen, dass dich überzeugen wird.“
Daniel lauschte den Ausführungen mit einer Mischung aus Neugier und Unglauben. „Soso. Und was ist das Trankopfer?“
Iris nahm die Flasche mit der roten Flüssigkeit und füllte sie in den Glaskelch und reichte ihn Daniel. „Bordeaux. Trink einen Schluck.“
Zögerlich setzte Daniel das Glas an die Lippen. Die Flüssigkeit benetzte seine Lippen und seine Zunge und schmeckte nach – Wein. Dann reichte er den Kelch an Iris zurück. Auch sie nahm einen Schluck und goss den Rest auf den kleinen Altar. Sie breitete die Arme aus und sagte etwas auf, was Daniel für einen Zauberspruch hielt. „Gusion, im Namen von Ha-Schem Ha-Mephorasch, nimm das Opfer an. Gib mir das Gesicht aus dem Leben von dem, der den Altar errichtete, der das Trankopfer mit mir teilte. Ata gibor le-olam adonai, unterwerfe Gusion meinem Befehle.“
Beinahe amüsiert beobachtete Daniel das Schauspiel. Aber während Iris ihren Zauberspruch aufsagte, sah er zu seiner Überraschung eine erste Flamme, wo der Wein auf den Altar getropft war. Rasch fing das Öl an zu brennen, der Weihrauch verströmte sein Aroma, Iris wiederholte den Spruch wieder und wieder, mit zunehmender Inbrunst. Sie schien in eine Art Trance zu geraten, ihre Augen waren geschlossen. Allmählich fragte er sich, woran er hier geraten war. Ihr Atem ging stoßweise, sie schwankte leicht vor und zurück. Dann, ohne Vorwarnung und unvermittelt schrie sie auf, einen gellenden Schrei, der aus ihrem tiefsten Innern zu kommen schien. Ihr Rücken richtete sich kerzengerade auf, sie riss ihre Augen auf, sie schienen im flackernden Feuer groß wie Untertassen zu sein. Iris öffnete ihren Mund, und ihre Stimme klang eine ganze Oktave höher als zuvor:
„Du hast Ruth eine Woche vor ihrem Tod einen Ring geschenkt. Sie hatte ihn am Tag ihres Todes getragen, du konntest ihn nicht finden. Sie hat ihn im Fitnesscenter vergessen, er liegt dort in ihrem Spind.“

Daniel war wie vom Donner gerührt. Er war sich völlig sicher, mit niemanden über diesen Ring gesprochen zu haben, nicht einmal mit Ruths Mutter oder seinen Eltern. Allein, dass Iris davon wusste, war unmöglich. Er hatte den Ring schmerzlich vermisst, jetzt an ihn erinnert zu werden, ließ all die furchtbaren Erinnerungen rund um Ruths Tod wieder in ihm hochkochen. Gleichzeitig war er überglücklich, möglicherweise einen Hinweis zu haben, wo der Ring sich befinden könnte. Tränen traten ihm in die Augen, Tränen der Trauer und Tränen der Freude zugleich. Rasch wischte er sich die Augen und schluckte den Kloß in seinem Hals hinab.
Kaum, dass er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, gewann seine skeptische Grundeinstellung wieder die Oberhand. Ihm fiel etwas ein, was Iris nicht wissen konnte.
„Hast du Ruth gesehen? Wie sah sie aus?“
„Sie war kleiner als ich, Sommersprossen, mit dunkelblondem Pagenschnitt. Kräftige Figur, aber nicht dick“, antwortete Iris. Sie sah blass und müde aus, als hätte sie lange nicht geschlafen.
„Ist mit dir alles okay?“ fragte Daniel, plötzlich besorgt.
„Jaja, geht gleich wieder“, sagte sie mit schwerer Zunge. Dann sackte sie erschöpft zusammen.

Iris schnappte nach Luft. Sie hatte eigentlich eine unscharfe Vorhersage treffen wollen, die in irgendeiner Weise eintreffen würde, aber dann hatte sie eine Vision gehabt, klar und scharf, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie hatte gesehen, wie Daniel einer Frau einen Ring gegeben hatte und sie hatte sofort gewusst, dass es sich um Ruth handelte. Sie hatte gesehen, wie Ruth den Ring in ihrem Spind vergessen hatte und sie hatte gesehen, wie Ruth auf dem Rückweg vom Auto überfahren worden war. In diesem Moment war sie aufgeschreckt und hatte ihre Vision ausgesprochen. Dann war ihr schwarz vor Augen geworden.
Jetzt kam sie langsam wieder zu sich und öffnete ihre Augen. Daniel sah verstört aus. Eine Träne formte sich in seinem Augenwinkel, doch er wischte sie verstohlen weg. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Vision real gewesen war. Sie rückte zu ihm herüber und nahm ihn in den Arm.
„Es stimmt alles, nicht wahr?“
Daniel schluckte, seine Stimme klang erstickt. „Ja.“

Daniel war noch eine Weile geblieben. Sie hatten nicht mehr weiter darüber gesprochen, aber Iris hatte gemerkt, wie sehr ihn ihre Vision bewegt hatte. Er war schweigsam gewesen und hatte sie seltsam angesehen, anders als zuvor. Sie spürte, dass er begann, an ihre magischen Fähigkeiten zu glauben. Doch obwohl dies ja ihr ursprüngliches Ziel gewesen war, fühlte sie sich seltsam. Sie hatte ihm ein wenig Theater vorspielen, ihm eine Show bieten wollen, mehr nicht, aber auf das, was dann geschehen war, war sie nicht vorbereitet gewesen. Es war nicht das Feuer, dass sich anscheinend von alleine entzündet hatte, sie hatte dafür gesorgt, dass dies passieren sollte. Unter den Weihrauch hatte sie etwas gemischt, das schon seit der Antike als automatisches Feuer bekannt war. Es entzündete sich bei Kontakt mit Wasser, das Öl hatte rasch für ein ansehnliches Feuer gesorgt und so erweckte es bei Uneingeweihten den Anschein, als hätte eine höhere Macht das Opfer angenommen.
Was sie aufgewühlt hatte, war die Vision gewesen, so klar und präzise, als hätte sie den Geschehnissen tatsächlich beigewohnt. Sie hatte schon öfters solche Dämonenbeschwörungen durchgeführt, ohne dass jemals etwas Derartiges geschehen war. Die Dämonen standen in ihrem Verständnis als Symbole für das, was sie erreichen wollte. Von Gusion hieß es beispielsweise in der Ars Goetia, einer mittelalterlichen Schrift über Höllendämonen, er kenne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zeige die Bedeutung der ihm gestellten Fragen und bringe Freunde in Übereinstimmung. Wegen der letzten ihm zugeschriebenen Eigenschaft hatte sie ihn gewählt. Sie fand, dass es sehr gut zu dem Vorhaben, Daniel von ihren seherischen Fähigkeiten zu überzeugen, passte.
Doch sie hatte weit mehr bekommen, als sie erwartet hatte.

Daniel war nach Iris´ Prophezeiung emotional zutiefst aufgewühlt. Wie konnte Iris von dem Ring wissen? Natürlich war es nicht ungewöhnlich, seiner Freundin einen Ring zu schenken, von daher konnte es auch geschickt geraten gewesen sein. Aber auch das Drumherum stimmte, sowohl der Zeitpunkt des Geschenks, wie auch das Fehlen des Ringes nach Ruths Tod. Und die Beschreibung traf auf Ruth zu, obwohl Iris unmöglich ein Bild von ihr gesehen haben konnte. Hatte Iris wirklich eine übersinnliche Begabung? Oder war es ein simpler Glückstreffer gewesen? Ursprünglich hatte er hauptsächlich mitgemacht, um Iris zu gefallen. Er hatte verhindern wollten, dass sie ihn für engstirnig und langweilig hielt, an ein greifbares Ergebnisse hatte er nicht geglaubt. Nun war er sich da nicht mehr so sicher. Er musste unbedingt den Spind überprüfen.

Früh am nächsten Morgen stand er an der Rezeption des Fitnessstudios.
„Hallo. Ich müsste mal an den Spind meiner Freundin. Ich glaube, da liegt noch was von ihr drin.“
Das Mädchen sah zu ihm hoch. Gottseidank waren er und Ruth oft gemeinsam im Studio gewesen. Er selber hatte Ruth nach ihrem Tod hier abgemeldet. Er hoffte, dass der Spind noch nicht neu vergeben war. Zum Glück erkannte ihn die Mitarbeiterin und stellte keine weiteren Fragen.
„Okay, komm mit.“
Sie nahm den Generalschlüssel aus dem Schlüsselschrank und sie gingen zur Frauenumkleide. Sie ging vor und prüfte kurz, dass gerade niemand da war, dann rief sie Daniel herein. Sie öffnete den Spind und trat beiseite, um Daniel einen Blick hinein werfen zu lassen.
Würde sich Iris´ Vorhersage bestätigen? Gespannt öffnete er die Tür. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, er wusste nicht, welcher Gedanke ihn nervöser machte: Das Iris Recht haben könnte, oder Unrecht.
Es war dunkel im Spind, seine Augen mussten sich einen Moment an das schwache Licht gewöhnen. Aber dann, dort hinten in der Ecke, sah er ihn: den Ring, den er Ruth geschenkt hatte. Wie hypnotisiert griff er nach ihm.
„War es das, was du gesucht hattest?“ Die Stimme der Rezeptionistin holte ihn zurück in die Wirklichkeit.
„Ja. Ja, danke“, antwortete Daniel tonlos.
Er verabschiedete sich hastig. Auf dem Heimweg arbeitete es in ihm. Er dachte an gestern Abend, die seltsame Vorstellung, die Iris gegeben hatte. Jetzt, da er den Ring gefunden hatte, gruselte es ihm. Wie hatte sie davon wissen können? Für Daniel gab es nur eine Antwort. Kaum, dass er zuhause angekommen war, nahm er das Telefon.
„Hallo?“ meldete sich Iris.
„Hallo Iris, hier ist Daniel. Ich habe den Ring gefunden. Er war genau da, wo du es vorhergesagt hast. Ich will mit dir die Beschwörung versuchen.“

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