Ich hasse die Farbe Weiss! Das Leben bietet so viele Farben, so viele Möglichkeiten. Warum müssen Häuser dann in dieser langweiligen Farbe gestrichen werden? Ich verstehe es nicht und ich will es auch nicht verstehen, ich will es einfach ändern.
Luna ist Luna. Sie hatte immer wunderbar verrückte, sonderbare Ideen und deshalb hat sich eigentlich nie jemand Sorgen um sie gemacht. Hätten wir machen sollen, denn ganz ohne Vorwarnung ist Luna nur mit einem Regenschrim bewaffnet aus dem dritten Stock gesprungen. Meine ganze Welt dreht sich plötzlich in eine andere Richtung und das einzige was mir vielleicht hilft, sind die Briefe, die Luna für mich versteckt hat.
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Halli Hallo!
Hier ist Luna, aber dass weisst du ganz sicher schon! Ich könnte dir jetzt sagen, wieso ich dir schreibe, aber du darfst noch ein wenig auf die Antwort warten!
Du hast letzthin zu mir gesagt: "Du bist verrückt!" Ich habe darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen; Nein, ich bin nicht verrückt.
Ich könnte normal denken, würde ich das wollen. Aber ich will das nicht. Denn normal denken, das ist das System, Neville. Und ich mag das System nicht.
Ich will ein eigenes System sein, neu sein, anders sein. Und deshalb denken alle, ich sei verrückt. Dabei will ich nur Dinge ausprobieren, die sonst keiner mag. Zugegeben; Einige Dinge waren vielleicht dumm. Zum Beispiel habe ich mit dir geschlafen, obwohl ich wusste, dass wir vielleicht nicht zusammen bleiben. Aber ich habe es in dem Moment für richtig gehalten, also war es vielleicht ja gar nicht dumm? Vor allem, weil wir es ja kein zweites Mal getan hatten. Eigentlich ist das ja auch egal, ich mag dich und nur das zählt.
Weisst du noch, als ich letzten Sommer den rohen Fisch gegessen habe und fast gestorben bin? Mein ganzer Magen musste ausgepumpt werden, aber das war mir egal! Ich wollte einfach wissen, wie er schmeckt. Ich erfinde die Welt komplett neu, von hinten bis vorne. Und wenn ich dabei sterbe, ist das halt so, aber wenigstens habe ich es probiert. Obwohl ich eigentlich noch viel mehr erleben will. Ich will Dinge sehen, die sonst niemand oder nur selten jemand sieht.
Letzte Woche habe ich Luftballons mit verschiedenen Farben gefüllt und sie in der Nacht an jedes weisse Haus im Dorf geworfen. Weisst du warum?
Ich hasse die Farbe Weiss! Das Leben bietet so viele Farben, so viele Möglichkeiten. Warum müssen Häuser dann in dieser langweiligen Farbe gestrichen werden? Ich verstehe es nicht und ich will es auch nicht verstehen, ich will es einfach ändern. Übrigens habe ich mir ein Piercing stechen lassen. Ja, du hast richtig gelesen, Neville. Ein Piercing in die Mitte der unteren Lippe. Und ich hatte meine Haare grün getönt, aber sie sind schon wieder blond. Ich bin durch die Strassen gelofen und habe nichts weiter getragen, als ein knielanges, blaues T-Shirt. Nur damit die Leute reden konnten. Eine hat mich gefragt, ob ich wisse, wie scheisse ich aussehe. Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht eintauchen will wie sie, sondern dass ich oben surfen will. Das hat sie nicht begriffen, dafür eine ältere Dame, die uns zugehört hat. In jedem und jeder steckt ein bisschen Verrücktheit, ein bisschen Wahn. Aber nur wenige wollen es sicht eingestehen.
Und weisst du, ich habe dir Briefe geschrieben und versteckt.. Ungefährt um die 20, wenn nicht mehr.
Den ersten hälst du ja schon in den Händen. Den zweiten wirst du schnell finden, du wirst sehen.
Jedenfalls stehen wichtige, intime Dinge in diesen Briefen. Überraschungen. Es ist wichtig, dass du sie alle findest und liest.
Kennst du das Buch "Madita" von Astrid Lindgren? Da springt ein Mädchen mit einem Regenschrim von einem Dach. Das mache ich auch. Warum?
Ach, Neville, mein Lieber, verstehst du es immer nocht nicht? Egal. Also, falls ich sterbe, trink jedenfalls einen für mich! Und such auf jeden Fall nach diesen Briefen! Mein Leben ist wie ein Film. Ein Action-Film mit der leichten Spur einer Romanze. Aber auch ein trauriger Film. Wieso traurig?
Das wirst du alles erfahren, der Reihe nach - ehrlich wie es sonst niemand zuvor von mir zu hören bekommen hat. Vielleicht versteht mich dann endlich jemand. Auch wenn ich dann schon tot bin. Du wirst merken, dass ich viel verschwiegen habe.
Such dir eine neue Freundin. Warte nicht darauf, dass du wieder jemanden wie mich findest, denn eine Zweite wie mich, gibt es zum Glück nicht.
Überhaupt waren wir ja eh nicht richtig zusammen. Oder? Jedenfalls such dir eine Neue, hab Spass und geniesse dein Leben. Eigentlich habe ich dich schon in viel zu viel Mist hineingezogen. Diese Briefe machen es wahrscheinlich auch nicht besser. Aber ich habe dich einfach so geküsst, deine Freundin vergrault, habe dich mit Schlamm eingeschmiert und dir Joints untergejubelt, dich in eine Schläglerei hineingezogen. Ich bin eine schlechte Freundin gewesen, aber ich kann das erklären! Ich bin einer Sucht verfallen, der Sucht nach Abenteuer, der Sucht nach Leben, nach Einzigartigkeit, der Sucht nach Liebe und Anerkennung. Weisst du, wie viele Menschen solch einer Sucht schon verfallen sind? In allen Schichten, in allen Ecken der Welt. Und sie hat bisher alle umgebracht, die ihr verfallen waren. Weil sie nicht mehr damit leben konnten, so leichtsinnig zu sein. Sie wollten alle immer weiter hinaus, sind durchgedreht. Ich streite ab, dass ich durchgedreht bin. Aber wahrscheinlich bin ich es doch, denn sieh nur, wie sehr ich dieser Sucht verfallen bin. So sehr, dass ich dazu bereit bin, alles zurückzulassen. Und ich finde es nicht mal schlimm, alle so zu verlassen. Nur...dich lasse ich ungerne alleine hier zurück. Weil du dann alleine wärst auf der Welt, nicht wahr? Aber bei dir ist es nicht schlimm. Weil du dich anpassen kannst. Du bist lieb und brav, bei allen immer sofort beliebt, nicht wahr? Manchmal habe ich mir gewünscht, dass du auch ein kleines bisschen süchtig bist. Damit wir uns ähnlicher sind. Aber es ist besser, wenn du es nicht bist. Dann stirbst du nicht so erbärmlich dran, wie ich. Dann kannst du leben, ohne es zu wissen. Je mehr du dich dannach sehnst, zu leben, desto weniger tust du es. Ironisch, nicht? Aber ich muss jetzt los, der dritte Stock wartet auf mich.
In Liebe,
Luna
p.s: Ich werde dich vermissen.
Ja, das war der Tag gewesen, an dem meine Freundin Luna nur mit einem Regenschirm bewaffnet aus dem Fenster gesprungen war. Sie hatte überlebt, atmete noch, lag aber im Koma. Niemand weiss so genau, wann und ob sie wieder aufwachen wird. Ich habe Angst vor diesem Tag, der alles entscheiden wird.
Aber ich bin froh, dass sie nicht tod ist. Ich bin verdammt nochmal ihr Freund und trotzdem konnte ich sie nicht retten. Meine Finger krallen sich wütend in die Bettdecke, während ich sie anstarre. So ruhig und friedlich wie sie daliegt.
"Neville? Du solltest langsam mal nach Hause fahren, du bist schon seit 10 Stunden hier. Fahr nach Hause, finde ein wenig Schlaf. Ich bleibe bei ihr.", sagte meine Mutter. Sie sass auf der anderen Seite des Betts, warf mir einen besorgten Blick zu. Ich seufzte. Eigentlich hatte sie recht. Ein letztes Mal strich ich über Lunas blasse Hand, dann stand ich auf und verliess das Zimmer. Ich musste unbedingt die anderen Briefe finden! Ich musste Luna verstehen, musste wissen, wieso sie dachte, ihr Leben sei ein trauriger Film. Ihre Worte aus dem ersten Brief schwirrten mir im Kopf, liessen mich kaum klar denken.
Zu Hause vergrabe ich mich unter einem Haufen Decken und Kissen. Meine Welt ist dumpf und leer.
Am nächsten Morgen, bin ich alleine zu Hause. Meine Eltern sind wahrscheinlich bei der Arbeit, das Haus ist verlassen. Ich erinnerte mich daran, wie gerne Luna oben auf dem Dachboden gewesen war und schleiche leise hinauf. Drinnen richt es immer noch nach ihren Apfelkerzen, die sie jedes Mal angezündet hatte, wenn wir hier oben waren. Mein Blick schweift durch den Raum, bleibt an einer Kiste hängen, die ein roter Schrim mit weissen Punkten ziert. Genau mit so einem Schirm, war sie gesprungen...mein Herz bleibt kurz stehen. Kann es sein, dass darin...?
Schnell schlängle ich mich durch das Chaos auf dem Dachboden zu der Kiste hin. Sie ist ziemlich gross und als ich den Deckel sehe, tritt ein wehmütiger Stich durch mein Herz. Es sind Bilder von ihr, von mir, von uns zusammen. Und ganz klein in einer Ecke, sodass man es kaum lesen kann, steht;
Luna`s Briefe